Alles begann ungefähr vor drei Jahren. Ich stellte mir vor in einer großen Wand alleine zu biwakieren und ganz auf mich gestellt zu sein. Mit meinen damals 27 Jahren durfte ich bereits Vieles erleben und mich selbst auch gut kennen lernen – in guten wie in schlechten Zeiten. Immer wieder trugen mich meine Gedanken in eine Wand, in welcher es nur mich gibt. Je mehr ich mich mit diesen Tagträumen beschäftigte, umso größer wurde der Reiz dieses Abenteuer auch tatsächlich zu erleben! In erster Linie ging es mir bei diesem Projekt darum, menschenseelenalleine und total auf mich gestellt zu sein. Ohne Mobiltelefon oder andere Mittel, welche mir es ermöglicht hätten mit jemanden zu kommunizieren.
Es dauerte nicht lange bis ich mein Projekt gefunden hatte. Mein Traum war es, die Nordwand der Großen Zinne solo zu klettern und da ich mein Vorhaben nicht zu einfach gestalten wollte, entschied ich mich dafür es in der kältesten Jahreszeit umzusetzen.
Im Winter 2013 musste ich jedoch erst einmal verstehen, dass die Zeit für dieses Abendteuer noch nicht reif war. Mein Bauchgefühl war alles andere als positiv und so musste ich lernen mit dieser Situation umzugehen. Ich fasste den kommenden Winter für mein Projekt ins Auge.
Mein Kletterpartner Gerry Fiegl und ich kehrten Anfang Februar 2014 von unserer Expedition in Patagonien heim. Meine Gedanken kreisten bereits in Südamerika um die Solobegehung, welche ich noch im Winter 2014 machen wollte. In der letzten Winterwoche der Saison wurde schließlich wunderschönes Wetter und ein Anstieg der Nullgrad-Grenze auf 3.000 Höhenmeter vorhergesagt.
Ich sortierte mein Material, spürte jedoch in meinen Inneren, dass die Begehung “Non Stop” am Fitz Roy, welche Gerry und ich in 31,5 Stunden geschafft hatten, mir mehr abverlangt hatte wie anfänglich angenommen. Ich war leider weder physisch noch psychisch hundertprozentig erholt und musste mein bereits aussortiertes Klettermaterial wieder an seinen Platz zurückhängen. Mir war klar, dass bei einer Solobegehung der Zinnen-Nordwand absolut kein Zweifel bestehen durfte. Ansonsten wäre das Risiko zu hoch gewesen.
Mittlerweile gibt es ein dutzend Kletterrouten in der Nordwand der Großen Zinne. Ich hatte mich für die Route “Das Phantom der Zinne”, erstbegangen von Christoph Hainz und Kurt Astner im Jahr 1995, entschieden.
Anfang März 2015 ging ich entlang des Fußes der Großen Zinne, direkt unter ihrer Nordwand, zum Einstieg, der genau im Zentrum der Wand liegt. Am Anfang der Route befindet sich eine schöne Sanduhr, die ich als ersten Stand benutzte. Nachdem ich dort mein Seilende befestigt hatte, hängte ich den Gri-Gri ein und kletterte los. Beim Klettern der ersten Meter war es recht kühl, je höher ich aber stieg desto wärmer wurde mir und schon bald konnte ich den ersten Stand einhängen. Danach seilte ich mich hinunter, baute die Länge ab, hängte das Seil von der Sanduhr wieder aus und stieg mit meinen Steigklemmen wieder über das Seil hoch. Spätestens nach dieser Aktion war mir sehr warm.
Die zweite Länge erfordert kräftiges Festhalten. Dies traf besonders auf die ersten sieben Meter der zweiten Seillänge zu, da hier keine Sicherungsmöglichkeit besteht. Mit Schweiß auf der Stirn und einem Lächeln im Gesicht konnte ich den ersten Bohrhaken einhängen. Langsam hatte ich mich an das Solo-Klettern gewöhnt und kam immer schneller voran. Nach ungefähr vier Stunden erreichte ich schon den fünften Stand. Dort fixierte ich meine Seile und seilte mich zum Einstieg ab. Nach einer knappen Stunde stand ich wieder an meinem Auto beim „Drei Zinnenblick“.
Am nächsten Morgen, dem 11. März 2015, ging ich wieder mit den Skiern über das Rienztal Richtung Drei Zinnen – dieses Mal jedoch mit Schlafsack und Proviant für zwei Tage. Da man in der Nordwand der Großen Zinne keinen Netzempfang hat, informierte ich meine Freundin darüber, dass ich mich spätestens bis Freitagmittag wieder bei ihr melden würde.
Kurz vor 10:00 Uhr stand ich wieder unter der unbeschreiblichen Felsenkulisse. Die Temperaturen waren etwas kälter als am Vortag und so stieg ich gleich wieder ein um nicht abzukühlen. Am Hase-Brandler-Band angekommen hängte ich meinen großen Rucksack in die Wand, denn dort plante ich die Nacht zu verbringen. Ich nahm mir nur zwei Riegel und einen halben Liter Saft mit um Gewicht zu sparen. Der Rest blieb beim Rucksack. Immer wieder ertappte ich mich selbst bei Selbstgesprächen und musste schmunzeln. Kurz vor der Schlüssellänge konnte ich mich endlich über zwei einfache Seillängen freuen, welche ich zügig hinter mir lies. Bis dorthin war die Tour sehr anspruchsvoll und trieb mich bis an die Grenzen meiner Ausdauer. Am Dach angekommen stößt die Linie auf die “Superdirettissima”. Diese Länge konnte ich gut technisch klettern. Sie kostete mich auch nicht viel Zeit. Ab diesem Abschnitt neigt sich das Gelände und nach gut 80 Metern neigten sich auch meine Kräfte und der Tag dem Ende zu. Ich war überglücklich bis dorthin gekommen zu sein – auch wenn mir noch wenige Höhenmeter bis zum Band fehlten.
Das erste Stück seilte ich mich ohne Probleme ab. Dann jedoch traf jene Situation ein, die ich tunlichst zu vermeiden versuchte. Das Seil lies sich nicht mehr abziehen. Ich fluchte in deutscher und italienischer Sprache, doch auch dies half nicht. Zum Glück hatte ich ein Halbseil mit dem Wissen, dass genau dieses Problem beim Abseilen eintreffen könnte, mitgenommen. Mit meinem Halbseil vom Vortag konnte ich 120 Meter fixieren und mit meiner 6mm Repschnur konnte ich mich bis zu meinen Biwakplatz sichern. Ich war heilfroh als ich das Band erreichte und freute mich darüber mein Biwak vorzubereiten.
Mit dabei hatte ich ein kleines leichtes Wandzelt. Doch leider war der Platz in der Wand kaum ausreichend für das Zelt und so stand die Hälfte dieses im Leeren. Langsam und vorsichtig holte ich Matte, Schlafsack und Kocher aus dem Rucksack. Die Folgen eines Absturzes des Materials waren mir bewusst. Während ich das Abendessen kochte spürte ich deutlich, dass meine Finger und Zehen von der Kälte in Mitleidenschaft gezogen wurden. Zur Feier des Tages gab es als Nachspeise Kekse und eine Tafel Schokolade.
Mit der Dunkelheit kam auch die Kälte und so kroch ich in meinen Schlafsack und zog den Reisverschluss vom Zelt zu. Negativer Nebeneffekt: ich hatte aufgrund der fehlenden Aussicht im Zelt kein Gefühl mehr dafür, wie weit der Abgrund von mir weg war. Mit gemischten Gefühlen versuchte ich immer mit meinen Rücken den Fels zu spüren um dadurch die Sicherheit zu haben nicht langsam nach vorne wegzukippen. Kurz vor dem Einschlafen begann ein heulen – nein, mehr ein Rauschen, das sich langsam näherte. Sobald es an meinem Zelt rüttelte, wusste ich auch was es war. Wie aus dem Nichts blies plötzlich ein kräftiger Wind. Am Anfang war der Wind noch schwach, aber mit der Zeit wurde er immer stärker. Ich hatte Angst davor, dass mich der Wind vom Band stößt. Mein Sicherungsseil hatte ich nicht direkt in meiner Nähe fixiert, sondern vier Meter weiter entfernt. Trotz Sicherung bestand die Gefahr eines 4-Meter-Pendelsturzes – inklusive mir und meinem Zelt. Allein der Gedanke daran, in der Dunkelheit kopfüber im Zelt in der Wand zu hängen, löste in mir eine Unruhe aus. Um 23:00 Uhr fing ich schließlich an zu beten, dass endlich der Wind abklingen sollte. Die Minuten fühlten sich wie Stunden an, die Momente bis um 1:30 Uhr, als schließlich das Windgeheul verstummte, wie eine Ewigkeit. Endlich konnte ich einigermaßen schlafen. Kurz vor 7:00 Uhr begann ich bereits wieder mein Zelt zu verstauen. Jetzt konnte ich eingehüllt in meinem Schlafsack die Aussicht genießen und mir dabei mein Frühstück schmecken lassen.
Ursprünglich wollte ich am Donnerstag nicht wieder die Wand rauf, sondern nur noch nach unten. Da ich jedoch am Vortag mein Seil nicht mehr abziehen konnte, stieg ich nochmals bis zu der Schlüssellänge über die fixierten Seile hoch und dann ein zweites Mal über das Dach. Es war Mittagszeit als mir der Gedanke kam, auch noch die letzten Meter bis zum Band zu klettern. An meinen Fingern spürte ich aber deutlich, dass ich es am Mittwoch bereits „zu weit getrieben“ hatte: die Daumenspitzen waren weiß und ähnelten in ihrer Form kleinen Wasserluftballons. Für mich war bald klar, dass ich so schnell wie möglich von der Wand runter und anschließend ins Krankenhaus fahren musste. Ich kann damit leben die letzten Meter dieser Route nicht geklettert zu sein, aber ich könnte nicht damit leben wegen genau diesen Metern meine Finger zu verlieren!
Dieses Mal kletterte ich Großteils das Dach rückwärts ab, da ich ein erneutes Verheddern des Seils im Fels vermeiden wollte. Dieses ist so sehr ausgesetzt, dass es mir den Atem raubte. Immer wieder sprach ich zu mir selbst: „Nur jetzt keinen Fehler machen“.
Da die Route nicht gerade, sondern im Zick-Zack verläuft, musste ich einige Karabiner zurück lassen um den nächsten Stand zu erreichen. Nach einigen wilden Pendlern kam ich heil an meinem Schlafplatz der letzten Nacht an, wo mein Rucksack mit der Biwakausrüstung am Stand hing. Da es auch ohne Rucksack schwierig war, alleine zu den Ständen zu gelangen, wollte ich den Abstieg nicht auch noch mit dem schweren Material auf dem Rücken bewältigen und so hatte ich umgehend die Idee den Rucksack die halbe Wand hinunterzuwerfen. Ohne lange Zeit zu verlieren, hängte ich den Rucksack aus und lies ihn Richtung Einstieg fallen. Nach einigen Sekunden in der Luft schlug er mit einem dumpfen Geräusch in die Schneedecke ein. Ich fühlte mich wie ein kleiner Lausbub, dem eben ein Streich gelungen war und lachte laut über die „Flugaktion“.
Der sichere Boden kam näher und näher, bis ich schließlich den Einstieg erreichte. Die Einbuchtung in der Schneedecke, geformt durch den Aufprall des Rucksacks, war nicht zu übersehen und ich holte ihn gleich aus dem Schnee. Schnell schnallte ich die Ski an und fuhr aus dem Schatten der Drei Zinnen. Ich setze mich für kurze Zeit im wohltuenden Sonnenschein auf einen Stein, schaute noch einmal zur Nordwand auf und bedankte mich für dieses unvergessliche Erlebnis.
Es war mein Traum diese Erfahrung zu machen, mein Leben völlig alleine in der Hand zu haben, ohne die Möglichkeit Hilfe zu holen falls ich in Schwierigkeiten gewesen wäre. Es war ein sehr intensives Projekt das schlussendlich zweieinhalb Tage dauerte – wobei ich festhalten kann: ich kenne mich jetzt um fünf Jahre besser!
Angekommen am Auto fuhr ich direkt nach Bruneck ins Krankenhaus und mein Verdacht wurde bestätigt: Erfrierungen an den Fingern und Zehenkuppen.
Als ich anschließend Zuhause ankam empfing mich meine kleine Familie mit ausgestreckten Armen und ich bedankte mich für ihr großes Vertrauen!
Ein großes Dankeschön geht auch an Dr. Mauro, der immer mein Ansprechpartner Nummer 1 ist, wenn es um meine Gesundheit geht! Martin und Kruscht, danke für die tollen Bilder!
Die Technik mit dem Gri-Gri funktioniert folgendermaßen:
Bei dieser Sicherungstechnik klettert man mit einem Einfachseil und fixiert dessen Ende am Stand. Das Gri-Gri trägt man dabei verkehrt herum am Gurt und lässt das Seil vom Stand von unten nach oben durchlaufen d.h. das lose Seilende läuft oben am Gri-Gri raus. Für die Umsetzung dieser Technik muss die in diesem Fall untere Seite des Gri-Gris aufgefräßt werden, damit das Seil gerade hineinlaufen kann. Mit dem modifizierten Gri-Gri kann ganz normal im Vorstieg geklettert und die Zwischensicherungen einhängt werden. Das Gri-Gri blockiert, wenn das Seil von oben kommt so wie beispielsweise bei einem Sturz.
Natürlich muss auch bei dieser Soloklettertechnik jede Seillänge zweimal geklettert werden, um den unteren Stand wieder abzubauen und die Zwischensicherungen einzusammeln.
Diese Technik ist jedoch nicht hundertprozentig sicher und keinesfalls mit einer Partnersicherung zu vergleichen. Eine Gefahr besteht beispielweise bei einem Überkopfsturz, da sich das System verdrehen kann und das Gri-Gri nicht mehr blockiert. Daher empfiehlt es sich zusätzlich immer wieder einen Knoten im Seil zu machen.